Lilli Biller | 2025
irgendwer blutet immer am besten
es war sommer, als ich mit einem blutschwur dem blut abgeschworen habe. es war der sommer nach der schulzeit und ich verbrachte ihn mit den jungen. nick hatte sich in den finger geschnitten. schönes, dünnes, rotes blut quoll aus dem sauberen schnitt. ich hatte die idee zuerst, aber ich schwieg und ein anderer sprach sie aus: „wir machen einen bruderschwur“. niemand korrigierte ihn und sagte: „bruder- und schwesternschwur“. ich freute mich darüber. also schnitt wim sich in den finger, dann falke. er reichte mir das messer. ich zögerte. ich dachte an dinge, die die jungen vergaßen. dass blut verklumpen konnte, wenn die falschen blutgruppen miteinander gemischt wurden. dass krankheiten im blut übertragen werden konnten. ich öffnete meinen mund, um zu protestieren, aber meiner zunge fielen keine wörter ein. ich hatte schon länger nicht gesprochen, ich war schon fast zwei wochen mit den jungen. es hätte mich zu viel kraft gekostet, die worte herauszupressen, also ließ ich lieber das messer sprechen, drückte es an meinen finger und zog es über meine fingerkuppe. ich hoffte insgeheim, dass auf meiner fingerkuppe – und auch auf denen der anderen – für immer eine narbe, eine kleine gemeinsamkeit in unseren ansonsten einzigartigen fingerabdrücken zurückbleiben würde, sodass wir uns bis ans ende unseres lebens miteinander herumtragen würden.
ich freute mich, als meine fingerkuppenhaut auseinander klappte und dünnes blut heraus quoll, fast so schön und rot wie nicks. mit den jungen traute ich mich solche dinge. wir pressten unsere finger aneinander, ich meinen an den von wim und wim seinen an falkes und falke seinen an nicks und nick seinen an meinen. über uns leuchteten die sterne, wie ich sie zuhause noch nie hatte leuchten sehen, aber ich schaute nicht hin, denn ich war noch nicht traurig. stattdessen schaute ich zuerst in wims augen, dann in falkes und in nicks. ich schaute etwas länger in falkes als in die der anderen und hoffte, er würde es bemerken. dann schworen wir.
ihr schwort auf den besten sommer, auf die freiheit, auf ewige freundschaft, ihr schwort nie so zu werden, wie die erwachsenen und das kommunistische manifest nochmal zu lesen, ihr schwort, dass sich an eurer freundschaft nie etwas ändern würde, auch wenn die schule jetzt vorbei war, und, in stille, heimlich, schwort ihr auch, herauszufinden, wer ihr ohne die anderen sein könnt, ihr schwort, herauszufinden, was ihr mit der neuen zeit, dem neuen leben, diesem ganzen eigenen leben anfangen wollt, ihr schwort herauszufinden, wer ihr sein wollt und nie wieder so zu sein, wie in diesem moment.
ich sprach euch jedes wort nach, aber in meinem kopf sprach ich eine andere sprache, eine sprache, die ich erfunden habe, weil ich immer eine eigene sprache brauche, wenn ich mit euch bin. in meinem kopf schwor ich dem blut ab, ich schwor dem mädchen-sein ab, schwor alles zu vergessen, was mich klein gehalten hatte in der schule, schwor, alle meine freundinnen zu vergessen, aber euch jungen niemals aus den augen zu lassen. ich schwor, mir alles anzueignen, was ihr habt, die freiheit, den mut, die wildnis. ich schwor mir alles anzueignen, was euch in einem raum laut und groß macht.
wenn wir nach sonnenuntergang noch in der schwülen sommerluft saßen, dann habt ihr diskutiert, über die welt und die politik, wie sie ist und wie sie sein könnte und ich habe auf mein handy geguckt. ihr habt gedacht, ich würde gelangweilt von euch ein handyspiel spielen, aber in wahrheit habe ich euer gespräch transkribiert, jedes argument, jede wortwendung mitgeschrieben. später, wenn ihr euch in den klapprigen hostel-stockbetten schlafen gelegt habt, habe ich das gespräch nachbereitet, all eure worte gegoogelt, um irgendwann mitsprechen zu können. und wenn nicht, wenn ich es doch niemals schaffen würde so zu sprechen wie ihr, hätte ich zumindest zeitzeuginnen-material. solltet ihr in die geschichte eingehen – wovon ich überzeugt war – würde ich wenigstens geschichtsbücher über euch schreiben können. ich protokollierte. nicht nur, was ihr spracht, auch wie flach der stoff eurer tshirts über eure brust fiel, wie ihr zigaretten drehtet, ohne hin zu schauen, wie falkes finger die finger eines anderen mädchen striffen, als er die klebrigen spielkarten austeilte. die karten zu einem spiel, das wir jeden abend spielten, das ihr von euren großen brüdern gelernt hattet und euch zum lachen brachte und bei dem ich mich immer anstrengen musste, dass nicht auffiel, dass ich die regeln nicht richtig verstanden hatte.
für euch war der sommer nach der schule eine selbstfindungsreise, für mich war er eine eingliederung. ich war da zur studie, um mir alles genau anzugucken, jede geste zu merken, wie ihr sprecht und was ihr tragt, ich schwor mir alles zu merken und zu nehmen, und nie wieder mädchen zu sein, nie wieder zurückhaltend, ängstlich und unlebendig. ich beobachtete euch mit hungrigen augen und dachte: zeigt mir, wer ihr seid, ich werde alles von mir verbergen.
als unser blut in einer sommernacht ineinander schwappte, war der plan gut und jahrelang vorbereitet. da wusste ich alles über euch, wusste, dass wir nicht sterben würden, denn wir alle waren blutgruppe null positiv, da wusste ich, wo ihr wohnt und warum ihr euch für eure eltern schämt und wann ihr welche bücher lest, sodass ich immer zufällig auch eines dieser bücher las. so hatten wir uns kennengelernt – „oh, das buch lese ich auch gerade!“ – und es war offensichtlich, dass ich zu euch gehörte. der plan war perfekt, ich lief euch hinterher, durch diese endlosen staubigen wege, ihr saht nach rechts und links, während ich nur auf eure nacken und eure waden starrte und ich dachte, so ein schöner nacken, so schöne waden, so nützlich, wie eure waden euch die berge hochtragen, wie eure langen gelockten beinhaare den schweiß tropfen lassen. manchmal fragte ich mich kurz, was ihr von der welt saht, wenn ihr nach links und rechts schautet, aber dann war ich schon wieder abgelenkt, von euren bäuchen, die so gut waren, so gut zum leben, so gut für euch, zum bewegen, wenn ihr euch nach vorne beugt, dann schlagen eure bäuche wellen, die nicht brechen, sondern sich aufstauten und das ist gut so, ich freue mich über diese wellen, weil ihr so genug haut habt, um euch in alle richtungen zu beugen und zu dehnen und zu essen was ihr wollt und das gönne ich euch. aber ich schaute auf mich hinab und mochte die wellen an meinem bauch nicht, wollte, dass sie brachen und wieder flach wurden, aber sie wellten sich so sehr und ich dachte, dass ihr mich mehr mögen würdet, wenn ich windstill und wellenlos wär und keine dunklen haare hätte, die sich aus meiner bikinihose kringelten.
ich bin mit euch gereist um mein geschlecht zu vergessen, diese nebensächlichkeit an der mein leben immer wieder scheitert. ich habe versucht so zu gehen und zu sprechen und zu leben wie ihr: mit großen schritten, komplizierten worten und furchtlos. stattdessen habe ich meine weiblichkeit in diesem sommer gespürt, wie noch nie zuvor.
in der großen stadt, in der ich plötzlich nur noch albträume hatte und alle stimmen hörte, die mich jemals gewarnt hatten: pass auf, wo du hingehst und wie du dich bewegst, was du anhast und wen du zu lange anschaust. sei nicht allein und bleibe bei den jungen. wenn ich ohne euch war, dann rannte ich durch die dunkler werdenden straßen und in der u-bahn tat ich so, als würde ich telefonieren. wenn wir nachts noch spät unterwegs waren, dann fürchtetet ihr euch manchmal, ausgeraubt zu werden und ich fürchtete, ermordet zu werden.
ich spürte meine weiblichkeit als ich im hostel besorgt gefragt wurde, ob ich alleine reise, und die leute erst beruhigt waren, als ich erklärte, das ich mit euch war und ich verstand, dass ihr meine eintrittskarte in die welt seid.
ich spürte meine weiblichkeit, wie nie zuvor, als eine freundin mich anrief und weinend erzählte, dass ein mann sie gerade angefasst hatte, und ich nichts tun konnte, außer gleichmäßig ins handy zu atmen, in der hoffnung, dass sie es mir nachtun würde.
meine weiblichkeit, da, im bus, als ihr alle schlieft, müde von der hitze, und ein unbekannter immer wieder auf meine brust starrte und ich zuerst versuchte, böse zurück zu gucken und mich irgendwann damit ablenkte, euch kalte luft zuzufächeln.
meine weiblichkeit, dort, als der verkäufer der bäckerei mir umsonst brot gab und ich mich überschwänglich bedankte und er später nochmal zu uns kam und mir auf die beine guckte und fragte, ob ich nun mit zu ihm nach hause kommen will. kurz hoffte ich, dass falke eifersüchtig wird, weil ein anderer mich will und er dadurch bemerkt, dass er mich auch will, dann schäme ich mich für diesen gedanken.
dort, als der vermieter uns sagte, wie viel die motorräder kosten. entweder ihr bezahlt oder ihr lasst das mädchen hier, sagt er und lachte. später sagtet ihr mir, dass ihr es stark fandet, dass ich dem vermieter gesagt habe, dass das nicht lustig ist und auch wenn dieses kompliment von euch mir früher alles bedeutet hätte, bedeuteten mir eure worte nichts.
dann, als ich mich nicht traute die motorräder zu fahren, die ihr alle so selbstverständlich fuhrt. da fühlte ich mich schwach und klein und lächerlich und dachte, meine weiblichkeit wäre schuld. da dachte ich, ich wäre meinem geschlecht ausgeliefert, verdammt für immer hinten auf dem motorrad zu sitzen. der blutschwur hatte nicht funktioniert, ich war mehr mädchen als vor der reise. ihr lerntet auf der reise neue dinge über die welt, ihr lerntet neue dinge über euch: falke möchte eine neue sprache lernen, nick möchte sich politisch engagieren, wille möchte kunst studieren. ich hatte gelernt, dass ich keine frau sein will.
der sommer ist fast zuende und wir auf dem rückweg nach hause, als ich auf einer tankstellentoilette sitze und auf meine unterhose starre, die sich zwischen meinen beinen spannt. ich starre auf die stelle, wo immer ein wenig grau-gelblicher ausfluss ist, vor dem ich mich ekle und von dem ich nie gelernt habe, was er eigentlich ist. da entdecke ich einen dunkelbraunen klumpen in meiner unterhose und ich muss ihn zwischen meinem fingern zerreiben, um zu erkennen, dass das blut ist, dass ich menstruiere. es erscheint mir so richtig, jetzt zu bluten, nach diesen wochen. ich finde ein tampon in meinem rucksack und ziehe an der tamponschnur um sicherzugehen, dass kein produktionsfehler gemacht wurde. ich schiebe den tampon mit meinem zeigefinger in meine vagina, bis mein zeigefinger ganz drinnen ist und ich nicht mehr weiter schieben kann. dann ziehe ich meinen finger wieder heraus. er ist jetzt rot. in der toilettenkabine gibt es keine möglichkeit meinen finger zu waschen, also verstecke ich meinen blutigen finger in meiner hosentasche, während ich in den waschbeckenbereich gehe. ich verstecke die spuren eines verbrechens. im waschbecken färbt sich das wasser hellrot. das blut wäscht sich ab und darunter kommt eine hauchdünne narbe zum vorschein, die stelle, an der ich mir am anfang des urlaubs in den finger geschnitten habe. für den blutschwur. da hatte ich euch jungen dafür bewundert, wie mutig ihr blutet. da hatte ich meinem eigenen blut abgeschworen, um mehr wie ihr zu sein.
im grellen licht der raststättentoilette denke ich jetzt: irgendwer blutet immer am besten und das bin wohl ich.